Literatur | Südkorea

Eintauchen in die Geschichte

Cheon Myeong-kwan erzählt in seinem Roman „Der Wal“ die Geschichte Südkoreas im 20. Jahrhundert als feministisches Märchen
In der Mitte eines ruhigen Meeres schwimmt ein großer Fisch. Die Rückenflosse ist oberhalb des Meerwassers. Horizont und Meer sind blassblau.

Ein Wal taucht unter

Seit Jahren feiern südkoreanische Regisseure wie Park Chan-wook, Bong Joon-ho, Hong Sang-soo und Kim Ki-duk internationale Erfolge. Die Netflix-Serie „Squid Game“ gehört zu den beliebtesten in nicht englischer Sprache. Dem koreanischen Kino den Rang ablaufen könnte allenfalls noch der K-Pop, der derzeit dank TikTok und Co. weltweit so gefragt ist wie nie, mit Girl- und Boygroups wie BTS, Seventeen, Blackpink oder (G)I-DLE.

Im Vergleich dazu bekommt die südkoreanische Literatur nur wenig Aufmerksamkeit. Zwar gelten Ko Un und Yi Mun-yol seit Jahren als Anwärter auf den Nobelpreis, mit ihren Büchern verhält es sich aber wie mit jenen des letzten Preisträgers Abdulrazak Gurnah aus Tansania: Nur wenige kennen sie, viele sind vergriffen. Zeitgenössische koreanische Literatur reüssiert nur vereinzelt, zuletzt der Roman „Die Vegetarierin“ von Han Kang, der mit dem International Booker Prize ausgezeichnet wurde.

Umso erfreulicher ist es, dass nun mit fast zwanzigjähriger Verspätung ein erzählerisches Meisterwerk in deutscher Übersetzung erscheint. Es handelt sich um den magisch-realistischen Debütroman des Autors und Filmemachers Cheon Myeong-kwan, mit dem er 2004 auf Anhieb den wichtigsten Literaturpreis seines Landes gewann. In „Der Wal“ erzählt er die Geschichte zweier Frauen, die sich – jede auf ihre Weise – in der sie umgebenden männlich dominierten Gesellschaft behaupten.

„Im Roman wird die Geschichte zweier Frauen erzählt, die sich in der männlich dominierten Gesellschaft behaupten"

Kŭmbok, die aus ärmlichen Verhältnissen kommt, hat zwei besondere Eigenschaften. Ihr Geruch bringt Männer um den Verstand, und sie hat die Kraft, Menschen von ihren Ideen zu überzeugen. Um dem Fischer, mit dem sie als Mädchen verheiratet wird, das Leben zu erleichtern, baut sie ein florierendes Warentermingeschäft für Trockenfisch auf. Liebe findet sie aber in den Armen des außergewöhnlich starken Hafenarbeiters Kŏkjŏng, der später bei einem tragischen Unfall stirbt. Zerrissen vor Kummer tritt Kŭmbok eine Odyssee an, erlebt Krieg und erleidet Gewalt, bis sich Zwillingsschwestern ihrer annehmen.

Sie fängt neu an und macht mit Kaffee ein kleines Vermögen, mit dem sie dann nahe der Stadt P’yŏngdae wiederum eine Ziegelfabrik aus dem Boden stampft. Als ihre Tochter Ch’unhŭi geboren wird, erlebt sie eine Zeitreise, denn das Mädchen ist ganz zweifellos das Kind des vor Jahren verunglückten Kŏkjŏng. Kŭmbok fühlt sich verflucht, statt Liebe bringt sie ihrer stummen Tochter nur Ablehnung entgegen. Diese Erfahrung prägt Ch’unhŭis Leben. Sie, die ohnehin schon eine monströse Erscheinung ist, muss sich ein dickes Fell zulegen und wird eine Katastrophe auslösen. Davon, wie sie über Umwege zu den Ursprüngen menschlichen Seins zurückkehrt, auch davon handelt dieser fulminante Roman.

Der titelgebende Fisch taucht im ganzen Roman nur zweimal auf. Einmal zum Luftholen, als die noch junge Kŭmbok auf das Meer vor Südkoreas Küste schaut,  um dann wieder in die Tiefen des Ozeans abzutauchen, und ein zweites Mal auf der Schlachtbank der Fischer. Ab diesem Moment scheint es, als werde der Roman selbst mehr und mehr zu einem Wal, der immer wieder in eine seiner Erzählungen abtaucht, um unvermittelt wieder an die Oberfläche zu kommen und eine neue Geschichtenfontäne auszuspucken.

„Der Autor sprengt alle Grenzen des Erzählens“

Die Geschichte, die Matthias Augustin und Kyunghee Park auf mitreißende Weise übersetzt haben, lebt auch von ihren ausgefallenen Nebenfiguren. Sie könnten allesamt Fantasyfilmen entnommen sein: der Hüne Kŏkjŏng mit seinen stahlharten Doppelknochen, ein sprechender Elefant namens Jumbo, ein kinobegeisterter Hafengangster mit Narbe, ein Knastdirektor mit Hang zur Eugenik, ein Mann mit eiserner Maske auf Rachefeldzug und eine einäugige Alte mit einmaligen Überlebensinstinkten – das sind nur einige der skurrilen Charaktere, die diese Welt bevölkern. Ihre Geschichten handeln von den Gesetzen der Natur, der Ideologie, der Gerüchte, der Halbwelt, der Straße, der Liebe und vielem mehr.

In Erinnerung bleiben vor allem die Frauen, die dieser von männlicher Gewalt dominierten Gesellschaft trotzen. Die südkoreanische Presse hat „Der Wal“ als ”epochales Meisterwerk“ gepriesen und mit ”Tausendundeine Nacht“ verglichen. Tatsächlich erinnert die uferlose Erzählung stilistisch an die orientalische Erzählungssammlung. Da sind die schachtelartig verschränkten Geschichten, die verschiedenen Schauplätze, an denen sich die Schicksale der zentralen Figuren entscheiden, und die unzähligen Nebenfiguren. Dabei bittet der allwissende Erzähler immer wieder um Verständnis, nicht jeder Spur folgen zu können, weil das „den Rahmen dieses Buches sprengen“ würde.

Mit spielerischer Leichtigkeit entfaltet Cheon Myeong-kwan diese abenteuerliche Geschichte und sprengt alle Grenzen des traditionellen Erzählens. „Das Wesen von Geschichten ist es, dass Dinge hinzugefügt oder weggelassen werden, sie ihre Form verändern können, je nach dem Standpunkt, den der Übermittelnde einnimmt, sowie der Bequemlichkeit des Zuhörers und dem Können des Erzählers. Die geneigte Leserschaft mag einfach glauben, was sie glauben will.“ Mit diesen Worten begründet der Erzähler sein Vorgehen. In unvergesslichen, fantastischen Bildern handelt der Autor von den sozialen Abgründen einer uns fremden Gesellschaft und bringt uns diese Welt so nah, als wären wir ein Teil von ihr. So erweist sich dieses feministische Märchen über Südkoreas Einzug in die Moderne als große Literatur.

Der Wal. Von Cheon Myeong-kwan, erschienen bei Weissbooks Verlag Berlin, 2022