Kunst | Indien

„Geschichten sind wie Brücken“

Die nordindische Künstlerin Fileona Dkhar macht sich auf die Suche nach ihrem indigenen Erbe
Zwei Stränge aus Wurzeln bilden eine Brücke und führen über einen Fluß

Diese doppelte Wurzelbrücke befindet sich in der Nähe des Dorfes von Fileona Dkhars Großmutter. Immer, wenn Dkhar ihre Verwandten besucht, erklimmt sie die 14.000 Stufen, die zur Brücke führen

Das Interview führte Gundula Haage

Frau Dkhar, Ihr digitales Kunstwerk „Of Roots and Portals“ zeigt eine dunkle Bildschirmoberfläche, auf der sich langsam weiße Wurzelgeflechte ausbreiten. Was interessiert Sie an Wurzeln?
Zunächst wollte ich ganz konkret meine eigenen Wurzeln erkunden. Ich bin Khasi, das ist ein indigenes Volk aus Meghalaya im Nordosten Indiens. Allerdings bin ich in der Stadt aufgewachsen und hatte wenig Kontakt zu Khasi-Traditionen, die vor allem in den Dörfern gepflegt werden.

Khasi-Gemeinschaften sind in ganz Indien bekannt dafür, sogenannte lebende Brücken zu bauen, und zwar aus den Luftwurzeln von Gummifeigenbäumen. Wir nennen diese Brücken „jingkieng jri“. Meghalaya ist ein sehr hügeliger Bundesstaat mit üppigen Wäldern und viel Niederschlag. Aus Zement oder Holz gebaute Brücken werden in der Regenzeit leicht weggespült. Aber die lebenden Wurzelbrücken halten Überschwemmungen problemlos stand. Es dauert mehrere Generationen, bis eine solche Brücke fertig ist. Jeden Sommer kommen alle Menschen eines Dorfes zusammen, um neue Wurzeln einzuflechten, damit sie in die gewünschte Richtung wachsen.

Immer, wenn ich das Dorf meiner Vorfahren besuche, wandere ich zu einer Brücke dort. Der Weg ist sehr steil, 14.000 Stufen führen hinauf. Aber für mich ist diese kleine Pilgerreise meine Art des Heimkommens. Auch abgesehen von den Bauwerken spielen Wurzeln im Schöpfungsmythos eine wichtige Rolle.

Worum geht es dabei?
Laut unserer Überlieferung kamen wir Menschen dank eines riesigen Baumes auf diese Welt. Wir nennen ihn „Tangnub Tangjiri“, den mythischen Gummibaum. Mit seinen Luftwurzeln verband er den Himmel und die Erde. Die Menschen konnten nach Belieben hin und her klettern. Sie sollten sich um die Erde kümmern, sie hüten und pflegen. Doch irgendwann wurden die Menschen gierig und fällten den Brücken-Baum, um Profit zu machen. Seitdem sind wir an die Erde gebunden und können nicht mehr in den Himmel hinaufklettern.

„Wir fragen uns, wie wir unsere Geschichte für die Zukunft nutzen können“

Dieser Schöpfungsmythos sieht die Natur und insbesondere die Bäume als Ausdruck einer göttlichen Einheit, der auch wir angehören. Indem wir Bäume fällen, die Natur verschmutzen und ihre Ressourcen ausbeuten, brechen wir das Versprechen, uns um die uns anvertraute Erde zu kümmern.

Was bedeuten Ihnen Khasi-Mythen wie diese?
Ich bin nicht religiös, aber für mich sind Geschichten wie diese wie Brücken: Sie verbinden mich mit einer anderen Sicht auf die Welt, mit dem Wissen meiner Vorfahren. Aber wie kann ich eine Brücke zu denjenigen schlagen, die nach mir kommen? Ich habe viele Gespräche mit meinen Eltern, Großeltern und anderen Verwandten geführt. Und ich habe begonnen, einige der Khasi-Erzählungen in Briefen an meine Nachkommen weiterzudenken.

Liebe Nachkommen,

ich/wir schreibe/n euch, bevor ich/wir vergesse/n.
 
Mir wurde erzählt: Einst kamen wir vom Himmel und landeten auf der Erde.
Zwischen Himmel und Land wuchs ein riesiger Baum
als Brücke.
Jingkieng jri,
unsere Nabelschnur.
Meine/Unsere Vorfahren ballten ihre Fäuste zu Luftwurzeln.

Beim Herunterklettern wurden wir geboren.
Wir betraten diese Welt mit der Pflicht,
unsere Füße fest zu verwurzeln,
zu nähren, zu pflegen, als Sorgetragende.
Immer wissend, dass wir wieder hinaufklettern könnten,
um zurückzukehren.
Wir sind gekommen, um zu sein.

Doch wir sind verloren.
Nach unserer Ankunft entdeckten wir in uns selbst eine Unfähigkeit zu sorgen,
ein innerer Drang.
Wir ernannten uns selbst zu Besitzenden.

Von der Macht korrumpiert fällten wir den Baum, die Brücke.
Vergaßen, dass wir zurück ins Licht klettern könnten.
Wir haben uns selbst verletzt.
An diesen Narben tragen wir schwer.

Liebe Nachkommen,
in dieser Verletzung,
des Baumes, von uns selbst,
umschlungen von den Narben, die uns fesseln.
Ich erzähle in der Dunkelheit von der Erinnerung an das Licht.
Eine Erinnerung, in der wir für die Welt da sind.
Als Sorgende.
Liebe Nachkommen, wir erinnern uns.

Erster Brief Fileona Dkhars

Es ist meine Art, darüber zu reflektieren, woher ich komme und was meine Indigenität in der heutigen Welt bedeutet. Manchmal bezeichne ich meine künstlerische Arbeit als indigenen Futurismus: Angelehnt an den Afrofuturismus versuche ich, Mythologien der Vergangenheit in einem digitalen Universum und mit Sci-Fi-Ästhethik weiterzuspinnen. Schließlich sind wir alle Nachkommen und Vorfahren zugleich.

Ihr Kunstwerk besteht aus Videos, digitalen Animationen, Klanglandschaften und den erwähnten Briefen an Ihre Nachkommen. Auch Stimmen Ihrer Verwandten sind zu hören. Ihre Großmutter sieht man in einem kleinen Video, wie sie Vogelstimmen imitiert. Wie hat sie auf das Kunstwerk reagiert, als sie es gesehen hat?
Sie mochte die Animation der wachsenden Wurzeln, und es gefiel ihr, dass sie selbst Teil davon ist. Meine Großmutter ist sehr gut darin, Vogelstimmen nachzuahmen! Sie erzählte mir, dass sie gelernt hatte, die unterschiedlichen Vogelrufe zu übersetzen. Ein bestimmter Ruf bedeutet etwa: „Es ist Zeit zum Säen“. So wurde landwirtschaftliches Wissen weitergegeben.

Leider spricht meine Großmutter nicht sehr gut Englisch, so dass sie nicht alle Briefe, die ich für mein Kunstprojekt geschrieben habe, verstehen konnte. Ich plane gerade eine weitere Version auf Khasi zu machen.

Wie kommt es zu dieser Sprachbarriere in Ihrer Familie?
Das ist eine Folge des Kolonialismus: Ich bin nicht mehr mit dem animistischen Glauben und der Sprache der Khasi aufgewachsen. Ich wurde auf Englisch erzogen, weil die Briten es als Pflichtsprache in Nordostindien durchgesetzt haben. Die Generation meines Vaters konvertierte zum Christentum, aber meine Großmutter ist noch tief im Khasi-Glauben verwurzelt.

Als ich ihr die Briefe an meine Nachkommen übersetzte, fand sie das übrigens ein bisschen zu persönlich. „Warum schreibst du über die negativen Dinge?“, fragte sie mich. Ich finde es notwendig, auch die schmerzhaften Teile unserer Vergangenheit zu thematisieren. Denn mit den Veränderungen, die die Moderne mit sich brachte, war auch viel Leid verbunden.

„Viele Khasi mussten in den Kohleminen der Briten arbeiten, auch mein Vater“

Wald

Welche Auswirkungen hatte die britische Kolonialzeit über Sprache und Religion hinaus in Meghalaya?
Die Straßen, die Städte wie Shillong und Cherrapunji mit der landesweiten Infrastruktur verbinden, wurden von den Briten gebaut. Sie bauten sie speziell für die Gewinnung von Rohstoffen wie Kalkstein und Kohle. Viele Khasi mussten in Kohleminen arbeiten, auch mein Vater, als er noch ein Kind war.

Für mich ist es sehr schmerzhaft, die Erzählungen darüber zu hören: In der Nähe des Dorfes meines Vaters gab es eine sogenannte „Rattenlochmine“. Das sind Kohleminen, deren Gänge so extrem eng sind, dass man kriechen muss. Mein Vater und seine Brüder begannen dort zu arbeiten, als sie elf Jahre alt waren. Kinderarbeit also. Bis in die 1990er-Jahre war das ein ziemlich großes Geschäft. Auch heute gibt es noch einige illegale Minen in abgelegenen Teilen Meghalayas, obwohl Kinderarbeit offiziell natürlich längst verboten ist.

Mein Vater kroch frühmorgens in die Mine und arbeitete sehr, sehr hart. Es ist heiß, man kann sich kaum bewegen, und der Sauerstoff kann knapp werden. Mein Vater hat in den Jahren in der Mine viel Kohlenstaub eingeatmet, deswegen hat er heute gesundheitliche Probleme. Aber immer, wenn ich ihn nach der damaligen Zeit frage, sagt er: „Es hat Spaß gemacht! Nach der Arbeit haben wir unter dem Wasserfall gebadet, Fußball gespielt und extrem viel gegessen, weil wir so hungrig waren!“ Er scheint sich nur an die schönen Momente zu erinnern, die der Entspannung. Das hat mich sehr berührt, denn ich mache das Gleiche: Wenn ich viel arbeiten muss, gehe ich hinterher tanzen, um den Druck abzubauen.

Was bedeutet es für Sie, sich im Jahr 2024, in dem in Indien Parlamentswahlen stattfinden, als Khasi und indigen zu identifizieren?
In meinem Herkunftsdorf wird manchmal die Frage gestellt, wer das Recht hat, sich Khasi zu nennen und wer nicht. Ich bin, wie gesagt, nicht eingebettet in die Traditionen aufgewachsen. Also könnte man sich fragen, wie viel Khasi in mir steckt. Gleichzeitig bedeutet es mir sehr viel, mich mit dem Wissen meiner Vorfahren zu beschäftigen – gerade in so schwierigen Zeiten wie diesen. Die Regierung unter Narendra Modi, die sich erneut zur Wahl stellt, baut auf dem Hindu-Nationalismus auf, also auf der Idee eines rein hinduistischen Staates.

In der Realität ist Indien aber ein multiethnisches, multireligiöses Land. Wir Khasi sprechen eher Englisch als Hindi und sind größtenteils christlich statt hinduistisch. Laut der indischen Verfassung gelten wir als sogenannter „Scheduled Tribe“, wir befinden uns außerhalb des Kastensystems, das gesellschaftlich bis heute eine große Rolle in Indien spielt. Mich macht die Auseinandersetzung mit meiner Identität als Khasi stolz.

Haben Sie eine Lieblingsgeschichte Ihrer Vorfahren?
Ich mag einen Mythos sehr, der eine Erklärung dafür liefert, warum die Khasi-Sprache kein eigenes Alphabet hat. Laut der Erzählung gab es vor langer, langer Zeit eine Schriftrolle mit eigenen Khasi-Schriftzeichen. Eine Vorfahrin sollte sie in ein benachbartes Dorf tragen, doch sie wurde von einem heftigen Regenguss und einer Flutwelle überrascht. Sie begann zu schwimmen. Um die wertvolle Schriftrolle zu bewahren, verschluckte sie sie. Die Legende besagt, dass sie seitdem das Wissen in ihrem Bauch aufbewahrt und es durch ihr Inneres und mündliche Erzählungen von Frau zu Frau weitergegeben wird.

Für mich ist das eine sehr beruhigende Vorstellung. Unsere indigene Identität ist immer in uns. Auch ich trage sie in mir und kann sie durch meine Stimme und meine digitale Kunst weitergeben.

Sie sind Anfang dreißig. Haben Sie den Eindruck, dass es in Ihrer Generation generell ein Bedürfnis gibt, sich verstärkt mit dem kulturellen Erbe auseinanderzusetzen?
Wenn ich nach Hause fahre, dann treffe ich mich mit Künstlerinnen und Künstlern meines Alters. Wir sprechen viel darüber, wie wir uns mit den Mythen unserer Vorfahren auf eine Weise beschäftigen können, die auch in der Gegenwart noch sinnvoll ist. Wir wollen nicht nur rückwärtsgewandt die Gräuel der Kolonialzeit anprangern. Wir fragen uns, wie wir unsere Geschichte für die Zukunft nutzen können.

Außerdem beobachte ich ein wachsendes Gefühl des Stolzes, zum Beispiel auf Traditionen wie die Wurzelbrücken. Heutzutage gibt es in Meghalaya immer mehr Ökotourismus. An Feiertagen kommen viele Leute von außerhalb, um die Wurzelbrücken zu sehen.

Ein paar junge Leute aus einem Khasi-Dorf haben angefangen, mit Wurzeln so etwas wie einen Titanic-Schiffsbug zu weben. Sie sind mit Instagram und TikTok aufgewachsen und wollen offenbar einen Social-Media-affinen Ort schaffen, an dem Besucherinnen und Besucher Fotos machen. Mir gefällt es, dass junge Khasi zu Wurzelingenieuren werden und traditionelle Techniken auf neue Weise nutzen.