Indigene Kultur | Pazifische Inseln

Geschichten gegen den Klimawandel

An wenigen Orten ist die Bedrohung durch den Klimawandel so allgegenwärtig wie auf den Pazifischen Inseln. Die Soundkünstlerin Merewalesi Nailatikau über den steigenden Meeresspiegel, indigenes Storytelling und Konfliktbewältigung
Vogelperspektive auf das Ufer eines Mangrovenwaldes entlang der Meeresküste

Das Geschichtenerzählen fasziniert mich, seit ich denken kann. Ich komme aus Fidschi, definiere mich als indigen und bin mit Mythen, Sagen und anderen Erzählungen aufgewachsen. So habe ich meine kulturelle Zugehörigkeit und gewisse Werte und Normen übernommen. All die Geschichten haben auch mein Bild davon geprägt, wer ich bin.

Auf Fidschi wird man bei der Geburt einer Pflanze und einem Tier zugeordnet. Jedes Dorf und jede Insel haben ihre Erzählungen. Über einen Ort heißt es zum Beispiel, dass dort besonders friedliebende Menschen leben. Ein anderer ist für seine starrköpfigen Bewohnerinnen und Bewohner bekannt.

Ob wir uns mit den jeweiligen Kategorien identifizieren oder nicht: Zusammengenommen prägen sie unser Verständnis davon, wer wir sind und wie wir zueinander stehen – ähnlich wie ein Horoskop.

Eine Geschichte verbinde ich ganz besonders mit dem Dorf, in dem ich geboren wurde. Sie handelt von einem schelmischen Gott aus uralten Zeiten. Eines Tages erfuhr er von einem unbeschreiblichen Duft – und beschloss, dass er ihn ganz für sich allein haben musste. Er flog von Insel zu Insel und sammelte alles ein, was diesen Duft hatte. Doch als er auf meiner Heimatinsel ankam, hatte er in seiner Gier so viel zusammengerafft, dass er nicht mehr weiterfliegen konnte. Also ließ er alles zurück und floh.

Bis heute gibt es in meinem Dorf eine Pflanze namens Dobono, die ein einzigartiges, starkes Aroma verströmt. Auf anderen Inseln riecht sie nicht so. Zu den besonderen Anlässen meines Lebens – zu meinem Schul- und Universitätsabschluss etwa – organisierten meine Eltern, dass Verwandte aus unserem Dorf Blüten dieser Pflanze pflückten und sie mit dem Boot nach Suva, der Hauptstadt Fidschis, brachten. Ich bekam daraus eine Girlande geflochten.

„Wir Indigene sehen uns als Teil der Natur, nicht getrennt von ihr“

Für mich ist diese Geschichte der Inbegriff meiner Verwurzelung. Sie erinnert mich daran, wie geliebt und umsorgt ich in meiner Gemeinschaft bin. Herkunftsgeschichten, Legenden und Mythen wie diese sind für unsere kulturelle Identität auf den Pazifikinseln von großer Bedeutung.

Sie verbinden uns mit unserem Land, dem Grund und Boden. Natürlich unterscheiden sie sich von Insel zu Insel und von Region zu Region. In Papua-Neuguinea zum Beispiel gibt es allein schon 800 Sprachen. Kommt jemand aus dem Hochland, aus den Bergen, von einem Fluss oder direkt von der Küste? All das prägt die Menschen darin, welchen Platz sie in der Welt einnehmen.

Trotz dieser Vielfalt finden sich auch einige Gemeinsamkeiten, die wir Indigene des Ozeankontinents haben. Geografisch ist es nicht korrekt, von den Pazifikinselstaaten als „Ozeankontinent“ zu sprechen. Wenn man sich Weltkarten anschaut, dann ist da von Kiribati bis Papua-Neuguinea alles blau. Europäerinnen und Europäer mögen bei diesem Anblick denken: Da ist ja nichts als Wasser! Doch für uns ist der Ozean keineswegs leer. Ein junger Kanubauer aus Fidschi sagte mir einmal: „Das Meer ist meine Autobahn, mein Supermarkt, mein Friedhof.“

Die See ist voller Riffe, Lebensräume, Fahrrinnen und Fischgründe. Und sie verbindet uns alle miteinander. Wenn ich über eine indigene Identität der Pazifikinseln insgesamt nachdenke, dann kommt mir als zweiter wichtiger Aspekt neben dem Geschichtenerzählen die Verbundenheit mit der Natur und dem Land in den Sinn. Wir sehen uns als Teil der Natur, nicht getrennt von ihr.

Teweiariki Teaero, ein Ältester aus Kiribati, sagte in einem Interview, das wir für die Sound- und Videoinstallation „Oceanic Refractions“ führten: „Das Wort für ,Mensch‘ und das Wort für ,Land‘ ist bei uns dasselbe: ,te aba‘. Für uns besteht also eine sehr enge Verbindung zwischen Land und Mensch.“

„Der Klimawandel bedeutet für uns eine sehr reale Gefahr, denn er frisst das Land buchstäblich auf“

Das Gleiche gilt für das fidschianische Wort „nua“. Ob Kiribati, Fidschi oder Papua- Neuguinea: Die Menschen fühlen sich eins mit dem Land. Es ist tief in ihre Identität eingebettet. Dort haben ihre Familien seit Generationen gelebt, dort liegen ihre Angehörigen begraben.

Umso verständlicher ist es, dass die Vorstellung, dieses Land verlassen zu müssen, extrem bedrohlich ist. Der Klimawandel bedeutet für alle Menschen in den pazifischen Inselstaaten eine sehr reale Gefahr, denn er frisst das Land buchstäblich auf.

Wird heute bei den Vereinten Nationen über die Pazifikstaaten gesprochen, dann geht es dabei eigentlich immer um den Worst Case – dass unser Land verschwindet. Dieses Bedrohungsszenario bringt mich zu einem weiteren Sinn des Geschichtenerzählens: der Konfliktbewältigung.

„Das Wort ,talanoa‘ bedeutet ,eine Geschichte teilen‘ und steht für ein Verhandlungsformat, das bei schwierigen Entscheidungen zum Einsatz kommt“

Geschichten können uns helfen, Konflikte zu befrieden. Es ist ja normal, dass Auseinandersetzungen entstehen können. Doch wenn Menschen zusammenkommen, um Geschichten zu lauschen, finden sie auch wieder Kontakt zueinander und tauschen sich aus.

Das fidschianische Wort „talanoa“ bedeutet „eine Geschichte teilen“ und steht für ein Verhandlungsformat, das bei schwierigen Entscheidungen zum Einsatz kommt. Aber ein Talanoa ist wirkungslos, wenn nicht alle Betroffenen dabei sind. Inklusion ist also von zentraler Bedeutung.

Türkise Meeresoberfläche aus der Vogelperspektive

Leider findet dieses Prinzip bei der internationalen Klimapolitik keine Anwendung. Da sind diejenigen, deren Zukunft davon ganz direkt betroffen ist, wenig sichtbar.

Wie die Menschen vor Ort mit dem steigenden Meeresspiegel umgehen? Sehr pragmatisch. Einige höhergelegene Nationen bieten Land an, damit die tiefer liegenden ihren Gebietsverlust ausgleichen können. Fidschi beispielsweise unterhält in dieser Hinsicht langjährige Beziehungen zu Kiribati und hat dem Inselstaat Hunderte von Hektar für die Umsiedlung seiner Bevölkerung angeboten.

„Oft wandern ganze Gemeinden in höher gelegene Gebiete ab“

Das Thema ist allerdings sehr belastet. Zu Zeiten des Kolonialismus wurden viele Menschen in der Pazifikregion zwangsumgesiedelt, teilweise mit verheerenden Folgen. Die aktuelle Bedrohung rührt also auch an historische Traumata.

Oft wandern ganze Gemeinden, unterstützt durch die Regierung oder internationale Hilfsorganisationen, innerhalb eines Staates in höher gelegene Gebiete ab. In einigen Fällen haben sich Menschen allerdings geweigert, in neu errichtete Siedlungen zu ziehen, weil ihre Fischgründe oder landwirtschaftlichen Anbauflächen von dort aus nur noch schwer zu erreichen gewesen wären.

Denn ein sicheres Zuhause zu haben, heißt nicht nur, dass man vor dem Anstieg des Meeresspiegels geschützt ist; es muss auch zum Leben der Menschen passen. Deshalb ist es für den Erfolg solcher Umsiedlungen essenziell, wie die Gemeinschaften in die Entscheidungen einbezogen werden – und zwar am besten im Rahmen eines solchen Talanoa, das für gegenseitigen Respekt und Vertrauen sorgt.

„Ich glaube, dass wir die strukturellen Ursachen des Klimawandels aus dem Blick verlieren, wenn wir uns so auf Resilienz fokussieren“

Angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Klimawandel ändern sich auch die Geschichten, die wir uns erzählen. Ich habe in den letzten Jahren an mehreren Klimakonferenzen der Vereinten Nationen teilgenommen. Da ging es immer wieder um „Resilienz“, die Frage, wie wir eine gewisse Widerstandskraft im Umgang mit den Folgen der Erderwärmung entwickeln können.

Ich glaube jedoch, dass wir die strukturellen Ursachen des Klimawandels aus dem Blick verlieren, wenn wir uns so sehr auf Resilienz fokussieren. Warum sollen denn die Menschen im Pazifik „widerstandsfähig“ sein, wenn die Katastrophe maßgeblich andernorts verursacht wurde und wird? Es sollte viel stärker darum gehen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Gegenzug müssen die vom Klimawandel Betroffenen unbedingt an den Entscheidungsprozessen beteiligt sein, zum Beispiel auch in der Frage, wie diejenigen, die den Klimawandel vorantreiben, dafür haften.

Langsam hält dieses Verständnis auch auf der Ebene der internationalen Politik Einzug, etwa mit dem Begriff „Loss and damage“. Die Vereinten Nationen bezeichnen damit Schäden und Verluste, die bereits heute durch den Klimawandel, durch extreme Wetterereignisse und den Anstieg des Meeresspiegels, eintreten. Mit ihm wird auch die Frage aufgeworfen, wie sich finanzielle „Entschädigungen“ beziffern lassen.

Auf den Pazifikinseln fordern die Menschen so etwas auch immer deutlicher ein. Allerdings sind es nicht nur unsere Strände, die nach und nach vom Meer verschlungen werden. Uns droht auch der Verlust unserer kulturellen Identität, unserer Geschichten. Was bedeutet die Erzählung des schelmischen Gottes noch, wenn es mein Heimatdorf und die Dobono-Pflanze nicht mehr gibt?

Zugleich verändert sich das Geschichtenerzählen selbst. Durch neue Technologien und die sozialen Medien hat es sich zum Beispiel stark beschleunigt. Und es werden andere als die herkömmlichen Wege gefunden, Geschichten zu bewahren. In Tuvalu etwa, einem der Länder, die wegen des ansteigenden Meeresspiegels in wenigen Jahren einen Großteil ihres Lebensraums verloren haben werden, arbeitet man daran, die erste „digitale Nation“ aufzubauen. Die Regierung experimentiert mit virtuellen Räumen, damit es zumindest einen entsprechenden Ort für die eigene Kultur, Geschichte und zivilgesellschaftlichen Austausch gibt.

„Es sind nicht nur unsere Strände, die nach und nach vom Meer verschlungen werden. Uns droht auch der Verlust unserer kulturellen Identität“

Auch ich suche nach neuen Wegen, um Geschichten zu erzählen. Mit unserer Installation „Oceanic Refractions“, die ich gemeinsam mit AM Kanngieser dieses Jahr auf dem CTM Festival x transmediale in Berlin uraufgeführt habe, wollen wir denjenigen Menschen aus dem Pazifikraum eine Stimme verleihen, die international bisher kaum Gehör finden.

Dafür haben wir viele Interviews mit indigenen Ältesten aus Kiribati, Papua-Neuguinea und Fidschi geführt; Menschen wie Simione Sevudredre, einem indigenen fidschianischen Ältesten und erfahrenen Pädagogen, der sagte: „Wenn die Menschen in Harmonie sind, dann spiegelt sich das in ihrem Verhältnis zum Land und zum Meer wider, denn diese sind eine Erweiterung von uns, und wir sind eine Erweiterung von ihnen.“

Protokolliert von Gundula Haage